abseitiges

2009/12/02

Die Puppe

Die Puppe hat ihr Augenlicht längst verloren. Sie kann den Brief nicht lesen, den Sara ihr mitgegeben hat: Die Hand der alten Frau hat die Worte auf das rosa Papier gezeichnet, eine Schreibschrift. Den Rand ziert ein Ranke, Blumen, Herzen. Mehrere Seiten voller zärtlicher Worte, Abschiedsschmerz.

Die Puppe sitzt in einem Schaufenster im hinteren Teil des Raums. In Ausstellungskästen um sie herum liegen vergilbte Blätter mit Kinderzeichnungen, abgewetzte Stofftiere aus Lumpen genäht, Reste von Spielautos. Kleine Hände haben mit ihnen gespielt, als die Nächte bitter waren und der Magen leer.

Sara hat durch die Augen der Puppe geblickt, die Blumen gerochen, die harte Pritsche unter ihr vergessen. Sie hat es „geschafft“, plötzlich war alles vorbei. In Haifa hat Sara ihre Familie – Töchter und Enkelkinder. Sie wurde neu geboren. Nur die Puppe blieb.

„Ich werde dich besuchen... lange wird es nicht sein... ich denke an dich...“, steht auf den Seiten. Als die Ausstellung verlängert wird, kommt Sara, um ihre Puppe zu besuchen, sie zu halten, mit ihr zu sprechen. Die alten Hände beben, als sie sich dem kleinen Körper entgegen strecken. Ein Strich durch das blonde Haar. Die Tränen fließen ihr die Wangen hinunter. Sie spricht leise mit ihr und mit sich.

Jerusalem, 2004

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen