abseitiges

2012/06/04

Kein Buch fürs stille Örtchen

Zehntausende Deutsche sind um ein Buch reicher geworden: den Koran. Aber wohin mit dem frisch geschenkten Stück? Ins Regal? Neben die Bibel? Für den Umgang mit ihrem wichtigsten Buch haben Muslime ganz bestimmte Regeln. Und nicht nur sie.

Achtungsvoll: Der Koran auf seinem Pult.                                     Foto: Kris Finn
Schön ist er. Sein Einband ist matt und dunkelbraun, sodass sich die goldenen Ornamente elegant von ihm abheben. Spielerisch umranken Blätter und Blüten die Konturen des achteckigen, islamischen Sterns. Darin glänzen in goldenen Lettern die fünf Buchstaben: Qur’an. Zu Zehntausenden haben die schmalen Büchlein in den vergangenen Wochen den Besitzer gewechselt. Ein Exemplar hat den Weg in unsere Wohngemeinschaft gefunden und liegt nun auf dem Küchentisch.

Hin und wieder nimmt einer der Mitbewohner den schmucken Band zur Hand, blättert darin, liest ein wenig, legt ihn wieder zur Seite. Nach einigen Tagen aber landet der Koran dort, wo alle unsere ausgelesenen Zeitungen und Zeitschriften irgendwann enden: auf dem WG-Sofa. Ich fische ihn unter der Tageszeitung von gestern und einem leeren Pizzakarton hervor. So hatten sich das die Salafisten sicher nicht gedacht. Aber wohin jetzt mit ihm? Ins Bücherregal, womöglich neben die Bibel?


Annett Abdel-Rahmans Koran steht auf einem kleinen Holzständer. Sein Einband ist schwarz und noch filigraner, noch kunstvoller verziert als mein Exemplar. Kleine blaue Klebezettel ragen über die Seiten hinaus, mit denen Abdel-Rahman Stellen markiert hat, die sie gerade beschäftigen – in alltäglichen Lebensfragen, als Mutter von drei Kindern oder bei ihrer Tätigkeit als islamische Religionslehrerin. „Darin rumschreiben würde ich nicht, zumindest nicht in der arabischen Ausgabe“, sagt sie.

Gottes Wort: Der arabische Text gilt als verehrungswürdig.       Foto: Kris Finn
Für Muslime sind die arabischen Worte, die die 114 Suren des Korans bilden, heilig. Sie verehren die Worte Gottes. „Viele Muslime haben für ihren Koran einen besonderen Platz. Wenn er bei anderen Büchern liegt, dann oben drauf. Manche legen ihn auch auf den Schrank oder hängen ihn in einem speziellen Beutel an die Wand.“ Denn der Koran soll nicht unterhalb der Gürtellinie des Menschen sein. Auch wenn er ihn zum Gebet mit in die Moschee nimmt, liegt er auf einem kleinen Pult, nicht auf dem Fußboden.

Von Koran to go bis Hörbuch-Koran

Genauso wenig sollte ein Muslim den Koran einfach anfassen. Bevor Abdel-Rahman ihn zum Gebet zur Hand nimmt, muss sie die rituelle Reinigung durchführen. Sie wäscht ihr Gesicht, streicht mit der feuchten Hand über den Kopf. Sie spült sich den Mund aus, wäscht sich Hände und Füße – und das dreimal. „Mit ganz normalem Wasser?“, frage ich. Typisch Christin. Abdel-Rahman lächelt. „Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Aber Wasser aus dem Wasserhahn ist völlig okay.“

Dann entfaltet die junge Lehrerin vor mir ein beeindruckendes Angebot praxisnaher Lösungen für den alltäglichen Gebrauch. Für unterwegs hat sie einen Koran im Kleinformat in einem hübschen Lederetui. Koran to go quasi. Muss sie einmal eine größere Ausgabe transportieren, schlägt sie die Schrift in ein Tuch, damit der Einband geschützt ist. „Ich schmeiße ihn dann eben nicht zwischen die Joghurtbecher oder nehme ihn mit auf die Toilette“, sagt sie. Auch Frauen, die ihre Menstruation haben und daher den Ko-ran nicht berühren dürfen, müssen nicht auf die Lektüre verzichten. „Wozu gibt es Hörbücher?“, fragt Abdel-Rahman.

Insgesamt sollten sich die frischgebackenen Koranbesitzer aber nicht allzu große Sorgen machen, religiöse Gefühle zu verletzen, sagt meine muslimische Gesprächspartnerin. Für Muslime sei die arabische Fassung verehrungswürdig, die deutsche Übersetzung könne man einfach behandeln wie ein wertvolles Buch. „Aber auch, wenn es sich um die arabische Fassung handelt, ist das Buch, also der Gegenstand an sich, nicht heilig, sondern nur die Worte, die darin stehen“, erklärt Abdel-Rahman.
Islamlehrerin Annett Abdel-Rahman      Foto: Kris Finn
So ähnlich sieht das übrigens das Volk des Buches, wie mir ein jüdischer Religionslehrer später erklärt. Für die Juden sei nicht das Buch heilig, sondern die Idee, die darin zum Ausdruck kommt, sagt er. Auch ein gläubiger Jude würde wertvolle Bücher nicht übereinander legen – ein bisschen so, als sollte ein gewichtiger Gedanke nicht einen anderen beschweren. Berührt ein gläubiger Judeversehentlich die Thorarollen, wäscht er sich die Hände mit Wasser aus einem speziellen Gefäß – nicht etwa, weil die Thora dreckig ist, sondern um sich selbst zu erziehen, respektvoll mit der Heiligen Schrift umzugehen.

Das Verhältnis zum Wort – damit wären wir auch wieder bei den Salafisten angelangt, die eine wörtliche Auslegung des Korans predigen und über die Abdel-Rahman eigentlich nicht reden wollte. „Wer das Wort wörtlich nimmt, wird ein einfaches Bild behalten und nicht viel über den Glauben erfahren“, sagt sie. Vieles bedürfe einer Erläuterung. „Im Koran steht beispielsweise, dass jeder Muslim im Ramadan fasten soll – außer er ist krank. Muss ich also nicht fasten, wenn ich ein bisschen Kopfweh habe?“ Sie lässt diese Frage im Raum stehen.

Währenddessen stecke ich meinen Koran wieder in meine Tasche. Zwischen das Notizheft und das iPad. Bei genauem Nachdenken ist die Achtung, mit der Muslime und Juden ihr wichtigstes Buch behandeln, gar nicht so ungewöhnlich. Auch ich würde meine Lieblingsbücher nicht einfach verleihen oder verkaufen oder gar wegschmeißen. Und wer freut sich nicht, wenn er nach zwei oder drei Jahrzehnten seine Kinderbücher wiederfindet – säuberlich verpackt in einer Umzugskiste?

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